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It’s the frei<tag> 2012 Countdown (19): Das utopische Element

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 28. Juli 2012

Karsten Schuldt

Der Bibliotheks- und Informationswissenschaft fehlt das utopische Element, dass sie einstmals mit sich führte. Einstmals, dass heisst gerade zur Zeit der Kybernetik, als sich die Informationswissenschaft – oder die Personen, die sich ihrer direkt und indirekt bedienten – in beiden Teilen der Welt zur Leitwissenschaft aufschwingen wollte. Es gab diese Zeit, wo sich Forschende ernsthaft hinsetzen und Texte schrieben, in denen sie davon sprachen, wie die Welt und die Menschen in 50, in 100 Jahren leben würden. Und das waren keine kleinen Entwürfe. Immer ging es in diesen den Menschen viel besser als heute, immer hatten sie die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen, fast frei von Arbeit, fast frei von Zwang, vor allem aber frei von Sorgen wie Krieg, Hunger, Einsamkeit und Krankheit.

Als Norbert Wiener in „Cybernetics“ behauptete, dass er mit der Kybernetik die Gewerkschaften bei der Schaffung eines besseren Arbeitsmarktes helfen könnte (wenn sie nur zuhörten), war dies Teil des utopischen Versprechens. Auch als Nikita Chruschtschow versprach, das die Sowjetmenschen binnen Kurzem die reichsten Menschen der Welt sein würden, tat er dies aufgrund der Vorhersagen der Kybernetik. Grosse Entwürfe die Welt besser zu machen, mit Hilfe der Information und Informationsverarbeitung – dies war für einen historischen Moment die Vorgehensweise der Informationswissenschaft. Begibt man sich einmal in die historischen Schriften (aber wer tut das heute schon noch?) auch der Väter und Mütter der Programmierung und Rechnenmaschinen, spürt man dieses Versprechen noch. Er scheint, als wäre damals viel Nachdenken über Informationssysteme und Informationen durch die grundgute Überzeugung getragen gewesen, dass man selber dabei war, die bessere Welt, das Himmelreich auf Erden, von dem Heine sprach, zu errichten – und zwar nicht irgendwann, sondern bald, wenn nicht heute, dann spätestens morgen.

Sicherlich: Das war grössenwahnsinnig und hat nie wirklich gestimmt. Genauso, wie wir immer noch nicht mit ökologisch unbedenklichen Elektroautos durch die Luft fliegen, obwohl uns das schon für das Jahr 2000 versprochen war, genauso wenig regelt heute ein System aus Rechenmaschine eine perfekt organisierte Wirtschaft oder einen perfekt organisierten Arbeitsmarkt. Und immer noch nicht geht es allen Menschen gut. (Vielmehr haben wir das Gefühl, dass es immer mehr Menschen immer schlechter geht.) Aber dennoch: Die von Utopie getriebene Forschung hat Ergebnisse hervorgebracht, kühne Entwürfe. Und bei alledem war sie in gewisser Weise viel symphatischer als so manche Forschung, von der wir heute so lesen können.

Was ist da eigentlich passiert? Heute machen wir uns Sorgen, ob ein Angebot einer Bibliothek genutzt werden kann, ob wir unsere Nutzerinnen und Nutzer glücklich machen, ob wir die Entwicklungen im Semantic Web (die an uns vorbeizogen) nachvollziehen können. Wir denken vielleicht noch fünf Jahre voraus, nicht aber mehr 50 oder 100. Wir schreiben keine Programme mehr, wie das Bibliothekswesen in den Mond- und Saturnsiedlungen organisiert werden müssten oder wie Informationen dazu beitragen werden, alle Kriege der Welt und den Hunger zu überwinden. Produkte entwickeln wir, keine Utopien. Dabei: Das Utopien nicht sinnlos sind, wurde in den letzten Jahren mindestens dreimal „nebenan“ in den Computerwissenschaften bewiesen: Internet, Semantic Web / Web 2.0 und One Laptop Per Child-Project waren allesamt Idee, die wahnsinnig klangen, als sie vorgestellt wurden, aber dann wurden sie doch erfolgreich.

Treffen sich mehrere Utopien in der freien Wildbahn… was passiert? Hier nichts. Der Traum vom richtigen Leben im falschen (AKA der ökologisch korrekte Kapitalismus), dahinter der Traum der Jugend, die sich in Studentenklubs zurückziehen und dort zu besseren Menschen werden kann. Und das wieder ausgedrückt mit der teil-ironischen, teil-ernsten (Weiss man’s? Wird ja heute nicht mehr geschaut wer Kommunistin ist oder Kommunist oder wer es nur ironisch meint. Zumal, in Berlin und Hamburg, vor allem aber in New York soll man schon von ironisch-kommunistischen Hipstern gehört haben. Alles schwierig.) Rezitation der Bildsymbolik einer untergegangenen Utopie – und das aus der Phase, als ihr utopischer Gehalt unter dem Stalinismus schon untergegangen war. Aber hier, im sommerlichen Potsdam, existiert beides (noch?) nebenher. Treffen sich also Utopien in der freien Wildbahn, tauschen die sich dann aus? Und über was?

Eine Wissenschaft, so die kurze These hier, die sich traut, weit in die Zukunft hinein zu entwerfen, mit Gedanken zu spielen, darüber nachzudenken, wie eine Welt (oder weiter ein Universum) gebaut werden kann, in dem alle Menschen (und Aliens und Roboter) glücklich sein können, wäre gewiss viel aufregender und würde viel mehr vorwärtsweisende Dinge hervorbringen, als die heutige Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Insoweit: Wenn jemand darüber reden will, wie wir das interplanetarische Bibliotheks- und Informationssystem in unserem Sonnensystem organisieren und dazu beitragen, dass auch auf den kleinen Siedlungen im Meteoriten die Medien, die gewünscht und benötigt werden, ankommen, würde ich sofort begeistert zuhören. Menschen, die über so etwas nachdenken, wollen immerhin die Welt besser machen.

3 Antworten

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  1. W. Umstaetter said, on 30. Juli 2012 at 09:19

    1. kann ich diesem Beitrag eigentlich nur zustimmen.
    2. bin ich auch der Ansicht, dass eine Wissenschaft, die keine Utopien mehr erzeugt, ihr Ziel verfehlt.
    3. kann ich der Aussage: „Begibt man sich einmal in die historischen Schriften (aber wer tut das heute schon noch?)“ leider kaum widersprechen, obwohl genau das Inhalt eines jeden Studiums sein sollte, damit man aus der Geschichte heraus für die Zukunft lernen kann – eine andere Möglichkeit des Wissenserwerbs gibt es nicht. „Methoden zum Wissenserwerb. Die erste ist die Beobachtung, die zweite das Experiment und die dritte, die logische Folgerung.“ (Zwischen Informationsflut und Wissenswachstum S. 204)
    4. Die Informationstheorie und in ihrem Gefolge auch die Kybernetik war eine Sternstunde der Wissenschaft, wie sie historisch betrachtet relativ selten geschehen, aus der sich dann zahlreiche Konsequenzen und Interpretationsmöglichkeiten für zukünftige Entwicklungen (Computer, DNS als Wissensspeicher für phylogenetisch Erlerntes, Künstliche Intelligenz, etc.) ergaben, die teilweise utopisch aber auch sehr oft realistisch waren. Man denke nur an das erwähnte Beispiel der Gewerkschaften, denen N. Wiener kurz nach dem zweiten Weltkrieg die Konsequenzen der Kybernetik und der Robotik deutlich zu machen versuchte, und die dann, nach etlichen Jahrzehnten, sich noch immer von der Automatisierung überrascht fühlten 😉
    5. Das wir bisher noch immer zu wenig aus der Informationstheorie gelernt und weiter entwickelt haben, erkennt man u.a. auch daran, dass die Fachwelt (insbesondere im Hinblick auf das Verlagswesen und das Urheberrecht) bis heute nicht sauber genug zwischen Information und Redundanz unterscheidet. Verlage produzieren Redundanz und keine Information! Ihre euphemistischen Behauptungen, sie produzierten und verbreiten Information verschleiert nur Tatsachen, aus denen sie einen Gewinn ziehen, der ihnen teilweise nicht zusteht. Die Produktion von Kopien (Redundanz) ist heute so rasch, einfach und billig geworden, dass es an Wucher grenzt, kopien für so hohe Kosten zu vermarkten, in dem man sie durch alle denkbaren Barrieren in der Ausbreitung begrenzt. Das schädigt die Wissenschaft der Welt schwer.
    6. Auch die Behauptung, an vielen Stellen Wissen (als begründete Information im Sinne der Informationstheorie) zu verbreiten, wo es sich meist um schlichten Unsinn handelt, ist so ein Missbrauch der Informationstheorie, deren revolutionäre Grundidee zu selten studiert und verstanden werden

    Ja, es geht in der Wissenschaft wirklich um das Motto die „Welt besser machen“.

    Walther Umstätter

  2. […] kaum bestreiten. Und könnte dort thematisieren werden, wo wir nach den höchst seltenen Erden utopischer Elemente in unserem Fach fragen. Gefällt mir:Gefällt mirSei der Erste dem dies gefällt. Tagged with: Bibliophilatelie, […]

  3. […] Zwei Aspekte finden dabei zueinander: (1) Die Frage nach Ziel, Zweck und Reichweite bibliographischer Nachweise (Session Katalogtheorie bei der Unkonferenz). Und (2) das utopische Element (vgl. einen entsprechenden Beitrag im LIBREAS-Blog ). […]


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